Der Besuch der roten Katze oder Wie alles begann

Alles begann damit, dass eine rot getigerte Katze in meinem Kontor auftauchte. Meine eigenen Stubentiger duldeten sonst keine fremden Invasoren in ihrem Territorium, doch von dem kleinen Rotschopf hielten sie sich seltsamerweise fern. Warum, wurde mir klar, als die neue Katze eines Morgens zu mir sprach: »Du wirst für mich schreiben.«
»Ich habe zurzeit keinen Bock auf Tiergeschichten«, lehnte ich ab. »Ich bin nicht irgendein Streuner, der von dir seine Memoiren geschrieben haben will. Ich bin ein Gott!« Das knurrte sie so kalt, dass sich auf meinem Monitor Eiskristalle bildeten. Die rot getigerte Katze entblößte langsam ihre Eckzähne. »Mach hier bloß keinen auf Jonas! Du solltest dir Umwege ersparen. Die Eingeweide eines riesigen Meeressäugers sind kein angenehmer Aufenthaltsort.«
»Wer bist du und was willst du?«, fragte ich nun eingeschüchtert.
»Ich bin ein Gott und du sollst für mich arbeiten!«
»Verzeih, du Gott, du hast dich anscheinend im Haus geirrt. Ich bin Schriftsteller und kein Prophet. Und außerdem, warum ich?«
»Weil sich heutzutage kaum noch jemand mit Göttern und Mythen auskennt.«
»Aber ich habe andere Projekte …«
Statt einer Antwort begann mein PC zu qualmen. Ich verstand: Diese Katze, respektive dieser Gott, duldete keinen Widerspruch. Also fügte ich mich in mein Schicksal. Schließlich konnte ich nicht riskieren, dass diese kleine Gottheit durch weitere Maßnahmen mein wunderschönes altes Fachwerkhaus in Brand setzte. »Gut! Was soll ich schreiben?«, lenkte ich ein.
»Die Geschichte von mir und meinem Propheten und den anderen Göttern und den mythischen Wesen und den dramatischen Ereignissen und den Menschen ...«
»Halt! Langsam! So wird das nichts! Gott und Propheten und so, das gibt es schon. Ist ein ziemlich dicker Wälzer und heißt Bibel.«
»Ich sehe in meiner momentanen Erscheinungsform vielleicht nicht so aus, aber ich kenne die alten Schriften. Du willst dich doch nur drücken.«
»Was springt eigentlich für mich bei der Sache heraus?«, fragte ich neugierig.
»Eine tolle Belohnung: Ich lasse dich am Leben.«
Mir schien es, als würde die Katze lachen. Es war ein sehr reißzahn-betontes Lachen und ich denke, mein Teint färbte sich in diesem Augenblick um einige Nuancen heller. Der kleine Gott grinste wie die Edamer Katze und versprach: »Ich sorge dafür, dass die Geschichte veröffentlicht wird. Also hör zu! Die Sache fängt im alten Ägypten an. Denk dir einen sympathischen Typen als meinen Propheten aus, so einen wie dich: klein, schmalbrüstig und Stubenhocker. Und weil er das Produkt deiner Phantasie ist, nennst du ihn am besten Seshmosis, den Sohn des Schreibers. Natürlich hat er auch Feinde. Vor allem Feinde. Aber er ist clever und führt sein Volk aus Ägypten. Obwohl ihm die Götter und der Pharao und Dämonen Steine in den Weg legen. Das Übliche eben, nur schlimmer und schräger.
Dann führst du sie hinters gelobte Land.«
»Moment mal!«, rief ich dazwischen. »Wieso sagst du DU, wieso soll ich das tun? Das macht doch dieser Seshmosis. Und warum hinters gelobte Land? Du meinst doch sicher ins gelobte Land?«
»Hinters, glaub mir, du wirst es eines Tages verstehen. Jetzt skizziere ich erst einmal grob: Dann geht es zum Minotaurus ins Labyrinth auf Kreta. Und von dort in den Trojanischen Krieg. Danach begleitest du Odysseus auf seinen Irrfahrten. Nach einer kleinen Pause fährst du dann nach Island und triffst die germanischen Götter. Und einige Zwerge, ein achtbeiniges Pferd und ein hyperaktives Eichhörnchen. Außerdem lernst du eine Walküre kennen und triffst Siegfried und Drachen. Und eines Tages landest du dann auf den britischen Inseln. Du wirst den Tod persönlich kennenlernen und Merlin und Artus …«
»Stopp! Das ist doch viel zu viel für ein einziges Buch!«
»Dann schreibst du eben mehrere. Schreib einfach so lange, bis alles erzählt ist.«
Und seitdem schreibe ich über GON, den kleinen Gott ohne Namen, und seinen Propheten Seshmosis. Unter Aufsicht einer rot getigerten Katze.

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