Interview aus "TOPfive"
Die 5 Taschenbuch-Highlights im Januar/Februar 2007

Vorgestellt werden "Insel der Vergessenen" von Victoria Hislop, "Der Tonsetzer" von Rainer Cordts, "Trauma" von Dean Koontz, "Anklage: Kindesmord" von Angela Cannings und "Die Irrfahrer" von Gerd Scherm.

Das Interview mit Gerd Scherm führte Bernd Degner, Heyne Verlag, Presseabteilung


Glückwunsch! Sie haben gerade für Ihr Gesamtwerk den Friedrich-Baur-Preis für Literatur der Bayerischen Akademie der Schönen Künste erhalten. Hätten Sie erwartet, dass Ihr Romanerstling „Der Nomadengott“ solch einen Erfolg hat?

Nein. Natürlich hatte ich gehofft, dass der Roman bei den Lesern ankommt und Beachtung in den Medien findet, aber diese Resonanz hat mich überwältigt. „Freilaufende Bücher“ führen manchmal ein überraschendes Eigenleben. Die Vielzahl der positiven Reaktionen, die mich per Brief oder Email erreichen, erstaunt mich ebenso wie die lebendigen Diskussionen über das Buch in diversen Internetforen. Ich freue mich ungeheuer, wenn ich auf einmal Post aus Ägypten bekomme und mir Menschen schreiben, dass sie das Buch an den Originalschauplätzen lesen.

Was erwartet die Leser in Ihrem Roman "Die Irrfahrer"?

Wie der Titel schon sagt, eine Irrfahrt bzw. eine „irre Fahrt“. Das kleine Grüppchen um Seshmosis fährt von Byblos nach Knossos, um dann unfreiwillig mitten im Trojanischen Krieg zu landen. Dort wundern sich die doch mehr pragmatischen Tajarim über die halbgöttlichen Helden, die sich gegenseitig aus zweifelhaften Gründen totschlagen und dass die griechischen Götter dabei auch noch kräftig mitmischen. Und nach dem geklärt ist, wie das mit dem Trojanischen Pferd wirklich war, schließen sich die Tajarim ausgerechnet Odysseus an, um schnell und sicher nach Hause zu kommen.

Beschreiben Sie Ihren Haupthelden GON, den Gott ohne Namen.

Das ist gar nicht so einfach, da GON in verschiedenen Gestalten erscheint, je nach Situation. Allerdings ist er nie größer als dreißig Zentimeter und auch die Reichweite seines göttlichen Wirkens ist auf Grund seiner Kurzsichtigkeit stark beeinträchtigt. Aber dafür ist er ein Gott, mit dem man, vor allem Seshmosis, reden kann und der auch nichts dagegen hat, dass man bei Bedarf andere Götter anruft. Ein Leser-Rezensent nannte GON auf den Webseiten von Amazon „die liebenswerteste Gottheit der Religionsgeschichte“.

Das klingt ja recht sympathisch...

Durchaus, das wird auch von der „Konkurrenz“ so gesehen. Die Evangelische Stadtakademie Erlangen, wo ich GON Anfang März 2007 vorstellen darf, schreibt in ihrem Programm: „Kennen Sie ihn, GON, den Gott ohne Namen, den Nomadengott? Wenn nicht, sollten Sie ihn schnellsten kennen lernen.“ Wann und wo darf ein Prophet schon in fremden Revieren einen neuen Gott vorstellen?

Und was ist der Prophet Seshmosis so für ein Typ?

Sensibel und schmächtig, spricht und schreibt alle gängigen Sprachen und Schriften des Altertums, und ist viel lieber Schreiber als Prophet. Seine Heimat sind mehr die Schriftrollen als die Wirklichkeit und er leidet oft an der Ignoranz seiner Stammesmitglieder. Er ist aber durchaus clever und seine Ängstlichkeit macht ihn zu einem wahren Überlebenskünstler. Obwohl er Unsicherheiten und Abenteuer verabscheut, zieht er sie stets magisch an. Und er hat bei all seiner Bescheidenheit ein verblüffendes Talent, im Mittelpunkt von Schwierigkeiten zu stecken. Da kollidieren oft seine Fantasiewelten mit der Realität.

Aha, ist er Ihr Alter Ego?

Ein ganz entschiedenes Jein! Sicher bin ich ein ebensolcher Stubenhocker wie Seshmosis, verlasse ungern meinen alten Bauernhof und werde nervös, wenn ich den Kirchturm nicht mehr sehe. Andererseits kenne ich die Wirklichkeit aus dem Fernsehen sehr gut und meine Ängste halten sich in Grenzen, wenn nicht gerade zornige Götter vor meiner Tür stehen.

Sie schildern humorig-ironisch die Welt der Mythen. Was fasziniert Sie daran am meisten und warum?

Jean Paul hat einmal gesagt, wer ein halbes Menschenleben lang dem Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Pathos und wirklichem Format, Auftreten und wirklicher Leistung in der Welt zugesehen hat und die Menschen dennoch liebt, der kann eigentlich gar nicht anders als in seiner ganzen Person im besten Sinne „ironisch“ zu werden. Und Humor ist von altersher die „Waffe“ der Schwachen. Die Welt der Mythen bietet alle erdenkbaren Konflikte der Menschheit, ob in der Familie oder zwischen Staaten, ob zwischen Mann und Frau oder Mensch und Gott. Alles ist schon da, bis hin zu den absurdesten Begebenheiten, man muss sie nur finden. Auch Siegmund Freud hat ja den Ödipus-Komplex nicht erfunden, sondern nur Vorhandenes beschrieben. Mythen bieten eine wunderbare Möglichkeit, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten.

Sie sind Freimaurer. Inwieweit beeinflusst das Ihre Weltsicht und damit Ihr Schreiben?

Ziemlich, weil Freimaurerei eine Philosophie der Menschlichkeit ist. Wenn man von Idealen wie Toleranz, Freiheit und Humanität geprägt ist, schlägt sich das immer nieder, im Leben wie im Schreiben. Das Wort „Freimaurerei“ muss nicht in einem Roman auftauchen, um die Geisteshaltung dahinter widerzuspiegeln. Das ist z.B. auch bei den Freimaurern Charles Dickens, Mark Twain oder Rudyard Kipling so.

Worin liegt für Sie der Unterschied zwischen Ironie, Sarkasmus und Zynismus?

Sarkasmus hat oft mit Notwehr und Unterlegenheit zu tun, ist beißender Spott, der häufig aus einer Verletzung resultiert. Zynismus dagegen ist ein Instrument der Mächtigen, das den Schwachen verhöhnt. Mein Feld ist die Ironie, mit der ich das Vorhandene anders betrachte, oft auf den Kopf stelle und dadurch entlarve. Es macht einfach unheimlich viel Spaß, Dinge beim Wort zu nehmen und gegen die Wand zu fahren. Aber ich würde nie sagen: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“, schon deshalb nicht, weil ich die Wölfe nicht beleidigen möchte.

 

Ungekürztes Interview, Abdruck honorarfrei, Belegexemplar erbeten:
Presseabteilung
Heyne Verlag / Diana Verlag
Bayerstr. 71-73
80335 München

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