Dass die Götter im alten Griechenland vor allem dumm, eitel,
hinterhältig, gewalttätig und sexbesessen waren, hat bereits der antike
Dichter Homer in seinen berühmten Epen angedeutet. Aber welches Maß die
göttliche Verworfenheit damals wirklich erreicht hat, erfährt der Leser erst
in unseren Tagen durch den fränkischen Schriftsteller Gerd Scherm. Der Autor,
der vor kurzem mit dem Baur-Preis der Bayerischen Akademie der schönen Künste
ausgezeichnet worden ist, erzählt in seinem neuen Roman die Sagen des
klassischen Altertums ganz neu und anders: Auf das Wesentliche reduziert und
gespickt mit ironisch-kritischen Anspielungen auf Personen und Ereignisse der
Gegenwart.
Die Hauptperson in Scherms Geschichte ist der schriftkundige Ägypter
Seshmosis, ein Vertreter von edler Einfalt und stiller Größe in einer Welt
voller so genannter «Helden», die in Wahrheit komplett durchgeknallte
Totschläger, Vergewaltiger, Räuber und Betrüger sind. Es ist die Epoche, in
der die grundlegenden staats- und wirtschaftspolitischen Ideen Europas
entwickelt werden.
Seshmosis findet das alles nicht so toll, aber er ist auch ein Mensch, der
seine Ruhe und Bequemlichkeit liebt. Doch da gibt es noch eine kleine,
aufmüpfige Gottheit, die ihn zu ihrem Propheten ernannt hat, und ihn dazu
verdonnert, sich auf die Suche nach weltanschaulichen Alternativen zu machen.
So begibt er sich auf eine abenteuerliche Irrfahrt durch den östlichen
Mittelmeerraum.
Dort ist gerade gewaltig was los. Die Gegend steht an der Wende von der
Bronze- zur Eisenzeit. In der Folge kommt es zu Veränderungen im regionalen
Machtgefüge. Seshmosis und seine kuriosen Reisebegleiter, welche Scherm-Leser bereits aus dem Roman «Der Nomadengott»
kennen, erleben den Anfang vom Ende der minoischen Kultur auf Kreta und den
Aufstieg von ein paar griechischen Kleinstaaten, die seit Jahren die Stadt
Troja an der anatolischen Küste bekriegen. Dabei geht es angeblich um die
Entführung einer griechischen Königstochter durch einen trojanischen Prinzen,
tatsächlich jedoch wird um den wirtschaftlich bedeutsamen Zugang zum
Schwarzen Meer gekämpft.
Sturz der Olympier
Spätestens vor den Toren von Troja sind Seshmosis sowie seine märchenhaften
Weggefährten übereinstimmend der Meinung, dass das alles ganz falsch läuft.
Durch die verantwortungslosen Spiele der Götter und ihrer menschlichen
Schachfiguren ist die Welt gründlich versaut worden. Weil sie in einer sehr
frühen Zeit leben, und überdies als Romanfiguren berechtigt sind, trotz
alledem an eine Veränderung zum Guten zu glauben, planen Scherms Helden den
Sturz der Olympier. Schließlich können sie ja im 12. vorchristlichen
Jahrhundert nicht ahnen, dass die meisten Menschen gar kein selbstbestimmtes Leben wollen. BERND ZACHOW
Gerd Scherm: Die Irrfahrer, Heyne Verlag, 447 Seiten, 7,95 Euro.
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